10.08.2022 | Faktencheck

Erdgas als wirkungsvolle Waffe

Die Schweiz hat keine eigenen Erdgasvorkommen und ist zu 100 Prozent von Importen abhängig. Erdgas wird auf den europäischen Handelsmärkten in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich oder Italien besorgt. Dabei ist der Anteil von russischem Gas unterschiedlich hoch, erklärt Thomas Hegglin vom Verband der Schweizer Gasindustrie «Gazenergie». Die Schweiz bezieht also nicht direkt Gas aus Russland, aufgrund der Handelsbeziehungen kamen im Jahr 2021 dennoch 43 Prozent der Gasimporte aus Russland. Der Anteil an russischem Gas dürfte gesunken sein, da Russland die Gaslieferungen nach Europa seit dem Krieg in der Ukraine gedrosselt hat, so Hegglin. 


Erdgastanks der Erdgas Ostschweiz AG mit Sitz in Zürich-Schlieren. Das Unternehmen betreibt das grösste Hochdrucknetz der Schweiz. Durch ihr Netz fliesst etwa ein Drittel des gesamtschweizerischen Erdgasbedarfs. Foto: Keystone-SDA / Alexandra Wey
Erdgastanks der Erdgas Ostschweiz AG mit Sitz in Zürich-Schlieren. Das Unternehmen betreibt das grösste Hochdrucknetz der Schweiz. Durch ihr Netz fliesst etwa ein Drittel des gesamtschweizerischen Erdgasbedarfs. Foto: Keystone-SDA / Alexandra Wey
Behauptung

In einem Facebook-Post wird die Frage gestellt, ob wir «die einzigen Deppen» seien, die «sich ruinieren». Das Sharepic bezieht sich auf Deutschland – auf dessen Gaslieferungen die Schweiz sich unter anderem verlässt. Aufgezählt werden die Gasgeschäfte, die Indien, China, Spanien, Italien und sogar die sich im Krieg befindende Ukraine angeblich mit Russland machen. 

Beurteilung

Die Angaben zu den Ländern Indien, China, Spanien, Italien und Ukraine sind zwar grösstenteils korrekt, der Vergleich mit Deutschland passt aber nicht. Selbst nach einer erneuten Reduktion bezieht Deutschland mehr Gas aus Russland als jedes andere europäische Land. Aufgrund von Wartungsarbeiten gibt es jährlich im Sommer für eine kurze Zeit einen Lieferstopp. China und Indien haben ihre Importe zwar deutlich erhöht, Gasverkäufe von Indien nach Europa sind jedoch nicht belegt.

Sachlage

Das Sharepic bezieht sich auf den Gashandel Deutschlands mit Russland. Das Signet «Sichert Deutschland» ist unten rechts zu erkennen. Es verweist auf den deutschen AfD-Politiker Martin Sichert. Mit seinem Facebook-Eintrag erzielte er in Deutschland auch deutlich mehr Aufmerksamkeit als in der Schweiz.


Ein gedrosselte Gaslieferung von Russland nach Deutschland beeinflusst durchaus auch die Schweiz, denn drei Viertel der Gaslieferungen in die Schweiz werden über Deutschland abgewickelt. Die Europäische Union hat russisches Erdgas bislang noch nicht sanktioniert und die deutsche Regierung signalisierte, auch weiterhin Gas aus Russland zu beziehen. Trotzdem kommt immer weniger russisches Erdgas in der EU an. Ende Juni 2022 kamen noch 15 Prozent der Gasimporte der EU aus Russland
 

Der Geschäftsturm Lakhta Centre, der Hauptsitz des russischen Gasmonopols Gazprom und das Stadion Gazprom Arena sind am 29. April 2022 hinter der Peter-und-Paul-Kathedrale in St. Petersburg zu sehen. Foto: Keystone-SDA / epa / Anatoly Maltsev
Der Geschäftsturm Lakhta Centre, der Hauptsitz des russischen Gasmonopols Gazprom und das Stadion Gazprom Arena sind am 29. April 2022 hinter der Peter-und-Paul-Kathedrale in St. Petersburg zu sehen. Foto: Keystone-SDA / epa / Anatoly Maltsev

 

 

 

 

 

Am 14. Juni hatte der russische Energiekonzern Gazprom mitgeteilt, die über die Pipeline Nord Stream 1 transportierte Gasmenge müsse reduziert werden. Dafür wurden technische Gründe angegeben. Die Deutschen Behörden halten dies für einen «Vorwand». Auch die Schweizer Behörden sind der Ansicht, dass die Menge an geliefertem Gas nach den Wartungsarbeiten eher auf politischen Entscheidungen Russlands basieren als auf technischen Probleme. 


Jährlich werden im Sommer Wartungsarbeiten durchgeführt, was zu einem Lieferstopp von russischem Gas über die Pipeline Nord Stream 1 für einige Wochen führt. Seit dem 21. Juli fliesst wieder Gas aus Russland über die Pipeline nach Deutschland. Wie vor den Wartungsarbeiten ist der Durchfluss aber beschränkt, erst auf etwa 40 Prozent, seit dem 27. Juli sogar auf 20 Prozent der eigentlichen Kapazität.


Deutschland bezieht also weiter Erdgas aus Russland, nicht anders als die anderen europäischen Länder, die im Sharepic aufgeführt sind. Zahlen zur Menge in Kubikmetern sind lediglich bis April 2022 verfügbar. In diesem Monat flossen gemäss der EU-Statistikbehörde Eurostat etwas mehr als 4,8 Milliarden Kubikmeter nach Deutschland. 40 Prozent davon sind also etwa 1,9 Milliarden Kubikmeter. Der Grafik zufolge ist Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Staaten der grösste Importeur von russischem Gas.


Italien bezieht deutlich weniger Gas aus Russland als Deutschland. 63 Millionen Kubikmeter habe der grösste italienische Öl- und Gasversorger ENI täglich in Russland bestellt, was rund 1,9 Milliarden Kubikmeter im Monat ergibt. Jedoch komme lediglich die Hälfte davon an, berichtete BBC. ENI teilte sogar mit, dass seit kurzem nur noch 21 Millionen Kubikmeter am Tag geliefert würden. Das wären zwischen 630 und 651 Millionen Kubikmeter im Monat. Auch wenn kleinere italienische Importeure dazugezählt werden, bezieht Italien weniger Gas aus Russland als Deutschland.


Spanien importiert einem Bericht des Wirtschaftsnachrichtendienstes Bloomberg zufolge tatsächlich aus Russland mehr Gas als je zuvor. Mit einem Energiewert von 8752 Gigawattstunden (GWH) pro Monat ist Russland der zweitgrösste Lieferant Spaniens. Hintergrund ist demnach ein politischer Streit mit Algerien, einem bis dahin sehr wichtigen Gaslieferanten. Die Zahl findet sich auch in einem Bericht des spanischen Pipeline-Betreibers ENAGAS.


Bevor Gazprom die Gaslieferung nach Deutschland reduzierte, lieferte Russland täglich Gas mit einem Energiewert von ungefähr 2500 GWH nach Deutschland. Seither der Reduktion sind es noch etwa 900 GWH. Dies geht aus einer Grafik der deutschen Bundesnetzagentur hervor. Mit ungefähr 27’000 GWH monatlich importiert Deutschland trotzdem noch deutlich mehr russisches Gas als Spanien.


Auch die Ukraine dient trotz Krieg weiterhin als Transitland für russisches Gas, wie auf der Seite des ukrainischen Betreibers des Transit-Systems ersichtlich ist. Für diesen Transit bezieht das Land auch weiterhin Gebühren.


Indien und China machen tatsächlich deutlich mehr Gasgeschäfte mit Russland als noch vor kurzem: China hat sein Abkommen darüber aber bereits vor Kriegsbeginn abgeschlossen, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) am 4. Februar berichtete. Die indischen Gasimporte aus Russland haben sich im Mai im Vergleich zum Vorjahr vervielfacht. Es gibt aber keinerlei Belege dafür, dass das Land wiederum Erdgas nach Europa oder Deutschland exportiert. Es wäre eher etwas ungewöhnlich: gemäss einem Energie-Analysten führte Indien zumindest bis 2020 überhaupt kein Gas aus. Auch die Schweiz unterhält keine Lieferbeziehungen zu Indien, schreibt Hegglin von Gazenergie. 


Aktuelle Situation in der Schweiz


Die Gasversorgung der Schweiz ist Stand Ende Juli 2022 stabil und die Gaslieferungen in die Schweiz sind normal. Im Anbetracht des kommenden Winters, wenn mehr Gas benötigt wird, kann es durchaus zu Engpässen kommen, insbesondere wenn die europäischen Gasspeicher nicht wie vorgesehen aufgrund der reduzierten Lieferungen aus Russland gefüllt werden können. Hierbei wird dann wohl Flüssigerdgas, welches anderswo auf den Weltmärkten besorgt werden kann, eine wichtige Rolle spielen. 


Um die Energievorsorge auf für den Winter 2022/2023 sicherzustellen, arbeiten die Behörden mit Branchenakteuren zusammen. Physische Reserven insbesondere in den Nachbarstaaten sowie die Möglichkeiten für den Erwerb von nicht-russischem Gas sollen die Vorsorge gewährleisten. Zudem verhandeln die Schweizer Behörden mit Deutschland sowie mit Frankreich und Italien über Solidaritätsabkommen. 
 

 

 

Quellen

Facebook-Post mit Sharepic (archiviert)


Facebook-Post von Martin Sichert (archiviert)


Bundesrat: Medienmitteilung über Gasbeschaffung und mögliche Mangellagen, 29.06.2022 (archiviert)


UVEK: Interview mit Bundesrätin Simonetta Sammaruga, 12.03.2022 (archiviert)


UVEK: Faktenblatt Energie, 20.07.2022 (archiviert)


Verband der Schweizerischen Gasindustrie: Herkunft Erdgas (archiviert)


Verband der Schweizerischen Gasindustrie: Verflüssigtes Erdgas (archiviert)


Deutscher Bundestag: Martin Sichert (archiviert)


Europäischen Rat: Überblick über die Russland-Sanktionen (archiviert)


Deutsche Bundesregierung: Regierungspressekonferenz, 11.07.2022 (archiviert)


Deutsche Bundesregierung: Regierungspressekonferenz, 20.07.2022 (archiviert)


Gazprom: Tweet zu fehlender Turbine (archiviert)


Deutsche Bundesnetzagentur: Lage der Gasversorgung in Deutschland (archiviert)


Eurostat: Daten zu Gasimporten 


BBC: Artikel über italienischen Gaskäufen aus Russland, 17.06.2022 (archiviert)


ENI: Artikel über die verringerten Gaslieferungen aus Russland nach Italien, 11.07.2022 (archiviert)


Bloomberg: Artikel über spanischen Gaskäufen aus Russland, 11.07.2022 (archiviert)


ENAGAS: Bericht mit Zahlen zu spanischen Gasimporten (archiviert)


Ukrainische Transitgesellschaft über transportierte Gasmengen, 20.07.2022 (archiviert)


dpa: Artikel über Energieabkommen zwischen Russland und China, 04.02.2022 (archiviert)


Business Standard: Artikel über Ölimporten von China und Indien, 06.07.2022 (archiviert)


CEIC: Analyse über indischen Energieexporten (archiviert)

 

 

 

 

Kontakt Faktencheck-Team: factchecking@keystone-sda.ch