15.07.2021 | Wissenschaft

«Wir müssen das Eisen schmieden, solange es noch heiss ist»

Der Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz ist in den letzten zwanzig Jahren immer stärker erodiert. Auch die Corona-Pandemie brachte die erhoffte Trendwende bisher nicht. Aber sie verlieh dem Wissenschaftsjournalismus Schwung, den es nun auszunutzen gelte, sagt Mike S. Schäfer, Professor für Wissenschaftskommunikation am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich, im Interview. 


 

 

Mike S. Schäfer, Professor für Wissenschaftskommunikation an der Universität Zürich, 1. Juli 2021 - Foto: Keystone-SDA / Christian Beutler
Mike S. Schäfer, Professor für Wissenschaftskommunikation an der Universität Zürich, 1. Juli 2021 - Foto: Keystone-SDA / Christian Beutler

 


Keystone-SDA: Hochschulen haben ihre Kommunikationsbemühungen in den letzten Jahren intensiviert. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind für alle zugänglich geworden. Demensprechend wird die Schweizer Bevölkerung im Prinzip ausreichend mit Wissen versorgt.

Mike S. Schäfer: Die Schweizer Hochschulen und Forschungseinrichtungen machen eine gute und immer professionellere Aussenkommunikation. Diese kann aber nur ein Baustein im grossen Puzzle der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sein. Hochschulen kommunizieren ja mittlerweile auch strategisch und versuchen, ihre Organisation möglichst in gutem Licht darzustellen. Deshalb braucht es zusätzlich eine neutrale Aussensicht und einen kritischen Blick. Dafür hat traditionell der Journalismus gesorgt. Mit der Erosion des Wissenschaftsjournalismus ist nun aber ein Ungleichgewicht zwischen der erstarkenden Kommunikation von Hochschulen und wissenschaftlichen Organisationen und dem Journalismus entstanden. 

In dem soeben veröffentlichten Sachstandsbericht der Schweizer Akademien kommen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen zum Schluss, dass der Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz vor allem objektive Informationen und Orientierung bietet – und nicht in erster Linie als «Watchdog» der Wissenschaft agiert. Sind wir Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten selbst ein zu starker Wissenschafts-Fanclub?

Es gibt in der Schweiz durchaus hochwertigen und auch kritischen Wissenschaftsjournalismus, vornehmlich in den Medien, die traditionell ein starkes Wissenschaftsressort haben, wie die SRG, die NZZ-Mediengruppe oder Le Temps. Aber viele Wissenschaftsjournalistinnen und Wissenschaftsjournalisten waren früher selbst in der Forschung tätig und sind entsprechend wissenschaftsaffin. Das kann auch dazu führen, dass man sich selbst weniger als Kritiker, sondern eher als Vermittler versteht. 

Kritische Berichterstattung erfordert allerdings auch mehr Zeit.

Tatsächlich müssen die Wissenschaftsredaktionen mit immer weniger Personal, weniger Geld und weniger Zeit zunehmend mehr Kanäle mit Inhalten füttern. Dadurch fällt kritische und investigative Berichterstattung oft unter den Tisch. Das ist keine gute Entwicklung.

Zudem haben viele Politik-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsjournalistinnen mittlerweile keine Wissenschaftsjournalisten mehr als Kollegen. So fehlt die wissenschaftliche Expertise und mitunter der kritische Blick in den Redaktionen, wenn es um Themen wie Klimawandel, 5G oder Covid-19 geht.

Apropos Klimawandel, 5G und Covid-19: Das Vertrauen und Interesse in Wissenschaft und Forschung in der Schweizer Bevölkerung ist zwar hoch. Trotzdem gibt es skeptische Stimmen, mitunter gar verschwörungstheoretische Ansichten in der Bevölkerung.

Es gibt in der Schweiz durchaus überzeugte Verschwörungstheoretiker, das haben wir in den letzten Monaten gesehen. Aber das ist eine kleine Gruppe. Was Studien wie unser Wissenschaftsbarometer zu Covid-19 zeigen, ist aber auch, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung zumindest einzelnen problematischen Aussagen zustimmt. Es lohnt sich, sich kommunikativ auf diese Gruppe zu konzentrieren. Und hier spielt auch der Wissenschaftsjournalismus eine wichtige Rolle. Denn diejenigen, die sich nicht unbedingt zu den Wissenschafts-Fans zählen, suchen eher nicht gezielt nach wissenschaftlichen Themen. Wenn, dann stossen sie in Nachrichtensendungen, beim Zeitunglesen oder in ihren Social Media-Feeds auf Geschichten aus der Wissenschaft. Anders als Wissenschafts-Enthusiasten erreicht man diese Gruppe allerdings weniger über nüchterne Erklärstücke, sondern eher über persönliche Geschichten von Forscherinnen und Forschern.  

Einen Pfeiler in der Landschaft des Schweizer Wissenschaftsjournalismus soll gemäss den Empfehlungen im Bericht auch eine nationale Nachrichtenagentur darstellen. Wieso ist es wichtig, dass Wissenschaftsnews von einem nationalen Anbieter an die Medienhäuser gelangen?

Dabei sind zwei Punkte wichtig. Zum einen findet die Erosion des Wissenschaftsjournalismus nicht in allen Medienhäusern gleich stark statt. Grosse Medienhäuser leisten sich nach wie vor eher Wissensressorts, während dies bei Regional- und Lokalmedien nicht mehr der Fall ist. Eine nationale Agentur kann dazu beitragen, dass Wissenschaft auch in diesen kleineren Titeln einen Platz erhält.

Und der zweite Punkt?

Die immer knapper werdenden Ressourcen treffen auch die grossen Medienhäuser. Indem ein nationaler Dienstleister kurze News liefert, können sich die Wissenschaftsjournalistinnen und Wissenschaftsjournalisten auch in den grossen Medienhäusern mehr auf umfassendere, vielleicht auch investigative Hintergrundartikel konzentrieren. 

Blick und EPFL wurden kritisiert, nachdem sie ihre enge Zusammenarbeit angekündigt hatten. Auch das Modell von Keystone-SDA sehen einige kritisch: Wir haben einen Vertrag, der uns journalistische Unabhängigkeit garantiert, unterstützt werden wir finanziell aber von vier Organisationen, die ein Interesse daran haben, dass über Wissenschaft berichtet wird. Wie schätzen sie dieses Modell ein?

Die übergeordnete Frage ist doch: Was ist die Alternative? Ich bin überzeugt davon, dass wir kompetente Vermittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft brauchen. Das hat die Pandemie wieder deutlich gezeigt. Dabei muss der Wissenschaftsjournalismus eine wichtige Rolle spielen. Und wenn man sich gesellschaftlich darauf einigen kann, dass Wissenschaftsjournalismus wichtig ist, dann ist die nächste Frage diejenige nach der Finanzierung. Da müssen wir zum einen den Service Public und die etablierten Medienhäuser in die Pflicht nehmen. Aber wir werden auch andere Finanzierungsmodelle brauchen. Wissenschaftliche Institutionen als Geldgeber sind eine Möglichkeit, auch Stiftungen sind eine Option. Zentral ist, dabei die Unabhängigkeit des Journalismus sicher zu stellen. Auch dafür gibt es in der Schweiz und international Ideen. Man kann die Finanzierung diversifizieren und zwischen Institutionen ausbalancieren, mit Verpflichtungserklärungen arbeiten, Förderentscheidungen nur von Peers treffen lassen. Vielleicht lassen sich davon nicht alle Kritiker überzeugen. Aber ich sehe keine valable Alternative.

Welche Zukunft wünschen Sie sich für den Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz?

Natürlich würde ich es begrüssen, den Wissenschaftsjournalismus auszubauen, ressortübergreifend zu integrieren, innovative Formate zu testen und so weiter. Aber realistisch betrachtet, müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass wir die Stellen und Infrastrukturen erhalten und stärken, die wir momentan haben. 

Die Corona-Pandemie brachte also keine Trendwende?

Bis jetzt sehe ich sie noch nicht, auch wenn es vereinzelt Lichtblicke gibt. Aber es gibt Positives, das sich während der Pandemie getan hat: Es gab mehr wissenschaftsjournalistische Inhalte in den Medien. Forscherinnen und Forscher meldeten sich häufiger zu Wort. Das Bewusstsein für die Bedeutung und die Relevanz des Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz wurde geschärft. Manche Entscheidungsträger haben sich sogar öffentlich dazu positioniert. Mit diesem Schwung sollten wir nun neue Organisations- und Finanzierungsmodelle erarbeiten und die nötigen Strukturen aufbauen, damit der Schweizer Wissenschaftsjournalismus gestärkt in die Zukunft geführt werden kann. Denn momentan ist das Eisen heiss – und wenn wir es nicht jetzt schmieden, wann dann?


Das Interview wurde von Stephanie Schnydrig, Wissenschaftsredaktorin der Keystone-SDA, geführt.
 


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Mike S. Schäfer ist Professor für Wissenschaftskommunikation am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich. Er forscht unter anderem dazu, wie die Schweizer Bevölkerung die Wissenschaft wahrnimmt und wie wissenschaftliche Themen öffentlich diskutiert werden. Momentan präsidiert er eine Arbeitsgruppe, die sich im Auftrag der Akademien der Wissenschaften Schweiz in den vergangenen Jahren mit den aktuellen Veränderungen und Herausforderungen der Wissenschaftskommunikation befasst hat. Am 15. Juli 2021 legen die Expertinnen und Experten einen Bericht vor, in dem sie auch konkrete Empfehlungen skizzieren, wie sich der Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz stärken liesse. 

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Lesen Sie den Sachstandsbericht der Akademien der Wissenschaften Schweiz  hier.